von Ingrid Bonin aus Maalot
Das Aufstehen am Morgen ist manchmal eine Überwindung. Welche Nachrichten wird der Tag bringen? Wachen wir heute endlich aus diesem furchtbaren Alptraum auf und leben normal weiter?
Doch dieser furchtbare Alptraum ist bittere Realität. Obwohl man sich wünscht, endlich aus diesem Film zu entfliehen, die Bilder und Geschichten vom 7. Oktober zu vergessen – man ist täglich live dabei.
Es sind 200 Tage seit dem 7.10. und noch immer ist das Ausmaß des Geschehens nicht zu fassen. Immer noch sind 133 Geiseln in der Gewalt der Hamas. Wie viele davon noch am Leben sind, ist unklar.
Am Donnerstag, 18. April war eine bedeutende Versammlung am Hostages Square (Platz der Entführten) in Tel Aviv. Die Angehörigen und Familien der Geiseln hatten zum Gebet aufgerufen. Es war eine Kundgebung für Einheit und Freiheit und für die Rückkehr der Entführten. Nun ist wieder Pessach – das Fest der Befreiung aus der Gefangenschaft in Ägypten, ein Fest an das Gedenken des Wunders der Befreiung und des göttlichen Eingreifens. Die zehn Plagen über Ägypten, der Auszug des Volkes Israel, das plötzlich geteilte Meer, durch das die Israeliten hindurchgingen … Auch heute hoffen sie auf Wunder. Man kann immer wieder den Satz hören: »Wer in Israel lebt, muss an Wunder glauben können«.
Es war mir sehr wichtig, bei dieser Veranstaltung dabei zu sein. Selbst jetzt, einige Tage danach, kann ich meine Gefühle und Gedanken immer noch nicht richtig in Worte fassen. Es war so bewegend und emotional. Vier Stunden stand ich mit vielen Israelis da, mit den Familien und Angehörigen der Entführten, mit Familien, deren Kinder oder Väter im Kampf gefallen sind … Viele kamen zu Wort. Hier möchte ich nur einige wenige Bruchstücke davon teilen:
Shelly, die Mutter von Omer Schem Tov. Sie bedankte sich unter anderem für unsere Anteilnahme als Anwesende. Es stärke sie, wenn sie die Einheit der Anwesenden sehe, die ihren Schmerz zum eigenen Schmerz machen. Ihr Sohn sei ein Sonnenschein gewesen. Sie würde nicht aufhören, für seine Freilassung zu kämpfen. Sie sehe es als ihre Pflicht an, für eine bessere und sicherere Zukunft in Israel einzustehen.
Iris, die Mutter von Yotam Haim. Ihr Sohn war nach Gaza entführt worden. Während die IDF Operationen in Gaza durchführte, wollten er und zwei andere israelische Geiseln fliehen. Dabei wurden sie von der IDF fälschlicherweise als Bedrohung identifiziert und erschossen. Iris äußerte ihr Mitgefühl und ihre Anerkennung für alle Soldaten der israelischen Armee: Sie bange und bete für jeden einzelnen.
Moran Stella Yanai, eine der entführten Geiseln, die bei einem Geiselabkommen nach 54 Tagen freigelassen wurde. Sie berichtete von dem Erlebten. Sie hatte jeden Tag gebetet und gedankt, dass sie noch lebe, und weiter auf Befreiung gehofft. Ihre große Sehnsucht in der Gefangenschaft war, endlich ihre Eltern wieder zu umarmen. Nach ihrer Freilassung musste man ihr jedoch mitteilen, dass beide Eltern ermordet worden waren. Moran Stella Yanai versprach den hinterbliebenen Gefangenen mehrmals hoch und heilig, alles dafür zu tun, dass auch sie freigelassen werden. Sie meinte, sie habe lange gekämpft, aber jetzt fühle sie sich so hilflos. Nach fast 200 Tagen sind immer noch 133 Geiseln in Gefangenschaft.
Wie viel kann ein Herz ertragen? Ich stand da – um mich unzählige Plakate mit den Gesichtern der Entführten. Fragen um deren Zustand, um ihr ungewisses Schicksal, nahmen mir den Atem.
Neben mir stand die Mutter von Almog Sarusi. Plötzlich kam jemand auf sie zu und sagte: »Es tut mir so leid, dass ich nicht früher davon wusste, das Almog entführt worden ist. Wir haben seit dem Jahr 2005 im gleichen Fußball-Team gespielt. Ich kenne ihn sehr gut. Am 7.10. bin zum Einsatz geeilt und erst vor wenigen Tagen wieder heimgekommen. Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, wer entführt worden ist. Ich wusste wohl, dass es Geiseln in den Händen der Hamas gibt …«.
Ein Vater, dessen Sohn entführt worden war, erzählte: »Ich konnte nicht essen, weil ich nicht wusste, ob mein Sohn etwas zu essen bekommt. Und wenn mir kalt war, fragte ich mich, ob mein Sohn auch friert. Ich konnte nicht duschen, ich konnte nichts tun, ohne bei allem an meinen Sohn zu denken! Als die IDF mir dann mitteilte, dass er in Gaza von der Hamas ermordet worden sei und seine Leiche gefangen gehalten werde, wurde mein Leben viel leichter. Ich war beruhigt zu wissen, dass er jetzt nicht mehr leiden muss. Ich kann es selbst nicht fassen, dass ich es so sage, aber die Ungewissheit vorher hatte mich nicht leben lassen. Erst nach der Todesnachricht wurde es besser. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es den Familien und Angehörigen geht, die immer noch in Ungewissheit leben und nichts von ihren Lieben wissen, die nach Gaza entführt worden sind …«
Daniel Oz war gerade im Dienst auf dem Militärstützpunkt, als die Hamas seine Basis angriff. Er ist am 7.10. bei der Verteidigung des Militär-Stützpunktes gefallen. Sein Vater berichtete: »Es ist unbeschreiblich schwer, einen Sohn zu verlieren. Ich erweise ihm große Ehre, dass er sein Leben gegeben hat für die Verteidigung des Landes. Aber was ich euch mitteilen muss ist: mein zweiter Sohn ist auch im Dienst im Militär. Ich habe ihn ziehen lassen, weil er seine Heimat und seine Familie verteidigen möchte. Bitte betet für seinen Schutz, betet, dass er bewahrt bleibt. Ich möchte nicht noch einen Sohn verlieren.«
Viele Familien wurden informiert, dass ihre entführten Familienmitglieder in Gaza ermordet worden sind und ihre Leichen dort festgehalten werden. Diese Familien weinen und bitten: Gebt uns die Leichen, auch wenn es nur Knochen sind! Wir möchten ihnen die letzte Ehre erweisen und sie hier im Land Israel würdevoll bestatten. Sie bezogen sich dabei auf die Geschichte des Exodus (Genesis 50,25 / Exodus 13,19 / Josua 24,32). Mose hat das alte Versprechen an Joseph erfüllt und seine Gebeine beim Auszug aus Ägypten mitgenommen.
Zwischendurch sangen und beteten wir gemeinsam. Das hat mir wieder Kraft zum Atmen gegeben. Während der Berichte hatte ich oft das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen; es war ein Empfinden, wie wenn der Boden unter mir wackelt und ich gleich umkippe vor Schmerz, Fassungs- und Hilflosigkeit. Es tat gut, mit den anderen zu weinen und Schulter an Schulter beieinander zu stehen, vereint wie eine große Familie.
Wieder feiern wir in Israel Pessach – das Fest der Befreiung aus der Gefangenschaft in Ägypten. Kann man Befreiung feiern, wenn die Geiseln bis heute nicht zurückgekehrt sind? Wir haben schon Chanukka und Purim gefeiert mit dem zusätzlichen »leeren Stuhl«. – Nun muss auch der Sederabend (die zeremonielle Mahlzeit am ersten Abend des jüdischen Pessach Festes) und das Pessach-Fest wieder mit zusätzlichen leeren Plätzen an der Festtafel gefeiert werden?
Abgeschlossen wurde die Veranstaltung mit der israelischen Nationalhymne. Wir beten anhaltend um die Befreiung aller 133 Geiseln. Wir beten um die vollständige physische und psychische Genesung aller befreiten Geiseln. Wir beten um den Schutz und die Bewahrung aller israelischer Soldaten.
Unser Tröstungsauftrag bleibt nach wie vor aktuell. Bitte beten Sie mit!
»Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir; sei nicht ängstlich, denn ich bin dein Gott; ich stärke dich, ich helfe dir auch, ja, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.« – Jesaja 41.10